Semesterarbeit in Sportpsychologie an der Universität Bern, Institut für Sport und Sportwissenschaften
Marcel Cavelti, Bern 1989
VORWORT
Im Sport wird man oft mit Emotionen konfrontiert. Dabei scheint Angst ein sehr häufig auftretendes Phänomen zu sein. Eine sehr starke Angst hat negative Folgen auf das betreffende Individuum, sowohl physisch als auch psychisch.
Unser Ziel sollte also ein Sporttreiben darstellen, bei dem die Angst auf ein Minimum reduziert ist. Gerade im Schulsport, bei sich noch in der Entwicklung befindenden Schülern, ist diese Forderung zu stellen.
Angst ist mit einem stark negativen Anstrich belastet. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Angst auch eine positive Seite hat. Sie stellt nämlich einen Schutzmechanismus dar, welcher den Menschen daran hindert, sich in überhöhte Gefahr zu begeben.
Im Folgenden beschäftige ich mich zunächst mit dem Begriff der Angst. Über die Ursachen, Funktionen und Formen der Angst gelange ich zu den pädagogischen Konsequenzen und deren praktischen Anwendung.
1. Theorie
1.1 Definitionsansätze
Bei der Durchsicht der verschiedenen Literatur konnte keine einheitliche
Begriffserklärung von Angst gefunden werden. Es existiert keine allgemein akzeptierte
Definition oder Abgrenzung des Begriffs. Im Folgenden werden eine Sammlung von Definitionen
angeboten.
Angst ist ein "durch die Erwartung eines drohenden Uebels erzeugtes Unlustgefühl"
(ROHRACHER 1971, 466).
Angst ist eine bewusste Erfahrung, die als "unlustbetont oder schmerzhafte Reaktion
mit körperlichen Begleiterscheinungen" vom Aengstlichen wahrgenommen wird
(SARASON 1971, 108).
Angst ist nicht nur eine emotionale Reaktion, die "durch subjektive, bewusst
wahrgenommene Gefühle der Besorgnis und Anspannung, eine damit einhergehende
Aktivierung des Autonomen Nervensystems (ANS) und eine motorische Komponente gekennzeichnet
ist", sondern auch ein Motiv d. h. "ein Stimulus, der seinerseits Wahrnehmung,
Lernen und Leistung beeinflusst" (KRUEGER 1968, 140).
Im Sportwissenschaftlichen Lexikon ist Angst die "Bezeichnung für eine
Reihe komplexer emotionaler Umstände, die aufgrund realer oder vermuteter Bedrohung
und äussere oder innere Faktoren verursacht und mit Begriffen wie Beengung,
Erregung, Lähmung, Beunruhigung beschrieben werden" (RÖTHIG 1983,
26).
Aus den Definitionen ist ersichtlich, dass Angst das Verhalten der Menschen steuert
und motiviert.
Angst tritt aber auch als Reaktion auf äussere und körperinnere Reize auf
(vgl. LAZARUS).
BOISEN (1975, 8) fasst die verschiedenen Definitionen mit folgenden Merkmalen zusammen:
"1. Angst ist eine emotionale Reaktion auf eine Gefahrensituation oder auf die
Antizipation derselben.
2. Sie wird als unangenehm wahrgenommen und ist von physiologischen Veränderungen
begleitet (z. B. Blutdruckanstieg, Schweissausbruch, Zittern, Erblassen, Weinen).
3. Sie ruft Verhaltensänderungen hervor."
1.11 Unterscheidung zwischen Angst und Furcht
Neben dem Begriff Angst existiert noch der Begriff Furcht. Oft werden diese beiden
Begriffe synonym gebraucht, wobei der Begriff Angst jedoch umfassender ist.
Furcht wird von der Angst unterschieden, indem dass sie objektbezogen ist, d. h.
dass Furcht immer eine spezifische Beziehung zu einem Gegenstand hat. Angst hingegen
ist eine gegenstandslose, unmotivierte Emotion.
Im Folgenden werden die Begriffe Angst und Furcht synonym gebraucht.
1.12 Aengstlichkeit
Aengstlichkeit ist ein Überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal, dass sich
bei allen leistungsbezogenen Tätigkeiten feststellen lässt. Angst tritt
hingegen in ganz bestimmten Situationen zeitlich begrenzt auf.
"Personen, die eine hohe allgemeine Angstbereitschaft aufweisen, neigen dazu,
ein breites Spektrum an Reizsituationen als bedrohend oder gefährlich wahrzunehmen
als solche mit niedriger Angstbereitschaft" (SPIELBERGER 1971, 268).
1.2 Ursachen der Angst
Die Angst stellt ein Signal vor einer Gefahrensituation dar. Bei einem Sprung
vom 10meter Turm ist diese Gefahrensituation objektiv vorhanden. Sie kann aber auch
nur subjektiv vermutet werden, ohne tatsächlich begründet zu sein (z. B.
beim Salto rückwärts am Boden mit Hilfe eines Gurtes).
Wie gefährlich eine Situation eingeschätzt wird, hängt dabei von früher
gemachten Erfahrungen ab. Es werden aber auch Aengste beobachtet, die nicht auf früher
gemachte schmerzliche oder bedrohliche Erlebnisse zurückgeführt werden
können.
"Offensichtlich stellt die Angst eine komplexe emotionale Reaktion dar, in die
sowohl anlagebedingte Dispositionen als auch durch Lernprozesse erworbene Verhaltensbedingungen
mit eingehen" (BAUMANN 1979).
1.21 Psychoanalytischer Ansatz
Grundlegend für den psychoanalytischen Ansatz sind die Angsttheorien FREUDS.
Freud unterscheidet 3 Aengste:
1. Als Realangst bezeichnet er die Angst vor den Gefahren der Aussen- und
Umwelt.
2. Unter neurotischer Angst versteht er die Aengste, die durch eigene Triebe
des Menschen entstehen, wenn diese mit den Anforderungen der Umwelt in Konflikt zu
geraten drohen.
3. Als moralische Angst (=Gewissensangst) sieht Freud die Aengste vor den
unausweichlichen Geboten eines Ueber-Ichs, seien es die göttlichen Gebote der
Kirche oder Gesetze des Staates.
Nach Freud ist der Geburtsvorgang die erste Situation, bei der das Individuum mit
Angst konfrontiert wird. "Aus dem Gefühl, dass elementare physiologische
Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, kommt es zum Erlebnis
der völligen Hilflosigkeit. Dieser erste Angstzustand (Primärangst) wird
zur Grundlage für spätere Angsterlebnisse, die dadurch entstehen, dass
dem Individuum durch die Gesellschaft Beschränkungen auferlegt werden, die es
an der unmittelbaren Befriedigung seiner Bedürfnisse hindert. Diese Beschränkungen,
............., erinnern das Individuum unbewusst an die Primärangst der ersten
Lebensmonate und werden als Gefahrsignal interpretiert (=Sekundärangst)"
(BOISEN, 1975, 10).
1.22 Lerntheoretischer Ansatz
Der lerntheoretisch orientierte Behavorismus kritisierte in wesentlichen Punkten
die Angsttheorien der Psychoanalytiker. Es gelang aber auch der Lernforschung nicht,
alle Phänomene der Angst auf erlernte Reaktionsweisen zurückzuführen.
Die Lern- und Verhaltenstheoretiker gehen nicht wie Freud von einer beim Geburtsvorgang
entstehenden Primärangst aus. Für sie ist die Angst eine erlernte Verhaltensweise,
wobei der Lernprozess nicht unbedingt in der frühen Kindheit stattgefunden haben
muss.
WATSON erbrachte den Nachweis, dass Angst über die klassische Konditionierung
erworben werden kann. Konditionierung bedeutet, dass ein bisher neutraler Reiz (unbedingter
Reiz) durch Assoziierung mit einem angstauslösenden Reiz (bedingter Reiz) ebenfalls
die Funktion des Angstauslösers übernehmen kann.
Beim operanten Lernen entsteht Angst, wenn auf ein bestimmtes Verhalten eine
Konsequenz folgt (z. B. Bestrafung), die dieses Verhalten zukünftig unterdrückt.
Diese Lernprinzipien müssen nicht als Reiz-Reaktions-Sequenz direkt im Individuum
ablaufen. Es kann auch über die Beobachtung anderer Personen Angst erlernt werden
(--> Modelllernen).
Zu erwähnen ist noch die Angstentstehung durch Generalisierung. Hierbei
wird die angstauslösende Funktion des konditionierten Reizes auf alle ähnlichen
Reize übertragen.
Eintreten und Ausprägung von Angst werden durch folgende Variablen beeinflusst:
"-der Intensitätsgrad der physischen Gefährdung;
-die raum-zeitliche Nähe der physischen und psychischen Gefährdung;
-der Grad der Aehnlichkeit der Reizsituation mit einer anderen als gefährlich
erfahrenen;
-der Schweregrad unangenehmer Folgen, die bei Versagen zu erwarten sind;
-der Grad der Misserfolgs-Wahrscheinlichkeit." (ZIESCHANG, 1979)
1.23 Angst durch Sozialisation in der Familie
Die Familie stellt die primäre Sozialisationstätte des Kindes dar.
Es wird mit ersten Normen und Wertvorstellungen konfrontiert, was eine entscheidende
Bedeutung für die Angstentwicklung des Kindes hat. Die Eltern lehren das Kind,
was gut und schlecht ist, was artig und unartig ist. Das Kind lernt, sich diesen
von den Eltern gesetzten Normen mehr oder weniger zu unterwerfen. Wenn sein Verhalten
nicht den Normen der Eltern entspricht, wird es meist durch Strafe oder Strafandrohung
modifiziert, oder nur das angepasste Verhalten wird belohnt.
Mit der Zeit kann das Kind Angst entwickeln, den Anforderungen der Eltern nicht mehr
zu genügen. Wird dieser Anforderungsdruck zu gross, kann eine allgemeine
Aengstlichkeit oder Autoritätsangst entstehen.
Interessant ist, dass Mädchen in dieser Phase eine höhere Angstausprägung
zeigen als Knaben. Erklären lässt sich dies hauptsächlich mit dem
gesellschaftlichen Einfluss. "Mädchen dürfen gemäss ihrer Rolle
in unserer Gesellschaft mehr Angst eingestehen und empfinden als Jungen, von denen
ein mutiges Verhalten erwartet wird" (BOISEN 1975, 25).
1.24 Angst in der sekundÄren Sozialisation (Schule/Verein)
Angst vor Schmerz und körperlicher Schädigung (Realangst) ist
eine zentrale Angstform im Sportunterricht. Beim Anfängerschwimmen z. B. kann
sich der einzelne sogar lebensgefährlich bedroht fühlen. Dabei muss die
Schmerzerwartung nicht unbedingt auf die persönliche Erfahrung des Sportlers
zurückgehen. Auch nur die Beobachtung z. B. des Sturzes eines Kameraden vom
Hochreck kann diese Schmerzerwartung entstehen lassen (--> Modelllernen).
Der Generalisierungseffekt kann so weit führen, dass die Schmerzerfahrung am
Reck auch auf andere Geräte übertragen wird. Eine totale Verneinung des
Geräteturnens könnte dann die Folge sein.
Angst vor Misserfolg tritt dann auf, wenn das eigene Anspruchsniveau nicht
der objektiven Leistung entspricht. Permanenter Leistungs- und Konkurrenzdruck bewirkt
eine ständige Erhöhung des Anspruchsniveaus, was die Angst vor Misserfolg
noch verstärkt. Bei einer Orientierung an den Leistungen der Gruppenmitglieder
kann selbst eine Steigerung der eigenen Leistung als Misserfolg erlebt werden, wenn
sie weitaus niedriger liegt, als die der anderen Gruppenmitglieder.
Der Führungsstil kann ebenfalls Ursache für Angst sein. Besonders
bei Personen mit hoher allgemeiner Angstbereitschaft kann zu viel Freiheit auf dem
Lernsektor ihre Unsicherheit steigern und die Entwicklung angemessener Bewältigungstechniken
verhindern. Andererseits kann auch eine zu autoritäre Führung als eine
Art Bedrohung verstanden werden und die Entwicklung von Aengsten unterstützen.
Die Angst vor Blamage stellt eine weitere Ursachenkomponente dar. Dabei wird
die Angst verstanden, sich vor anderen (Zuschauern, Kameraden, usw.) lächerlich
zu machen. FITTKAU (1969, 88 f.) hat herausgefunden, dass das Angstniveau von Schülern
erheblich von der Befürchtung abhängt, vom Lehrer blamiert zu werden. Interessant
dabei ist, dass Lehrer, welche mit fachlicher engagierter Aktivität unterrichten,
diese Angst noch erhöhen.
1.3 Funktionen der Angst
1.31 Antriebsregulation und Angst
Angst kann entweder zu einer Bewegungsaktivierung oder einer Bewegungshemmung
führen. Ob es nun zu einer Aktivierung oder Hemmung kommt, ist von der Komplexität
(Schwierigkeitsgrad) der Aufgabe, von der Stärke des Angstreizes, von den bisherigen
Erfahrungen und somit vom allgemeinen Aengstlichkeitsgrad abhängig. YERK und
DODSON haben experimentell folgende These aufgestellt:
Wenig Angst erleichtert das Lernen nur geringfügig, mittlere Angst führt
zu einer optimalen Leistung, starke Angst hemmt das Lernen und die Leistung.
Abbildung 1
Eine Lern- oder Leistungsaktivierung sowie Bewegungsaktivierung ist möglich,
wenn ein nicht zu hoher Belastungsgrad (Angstreiz) und ein mässiges allgemeines
Angstniveau gegeben ist. Die Bewegungsaktivierung entsteht dadurch, dass Angst
den Organismus in erhöhte Aktions- und Reaktionsbereitschaft setzt und ihn auf
die zu erbringende Leistung einstellt. Die Bewegungshemmung entsteht dadurch,
dass ein zu grosser Anreiz sich negativ auf die Programmierungsprozesse und Bewegungssteuerung
auswirkt.
"Durch Aktivierung auch an der Bewegung nicht beteiligter Gehirnzentren, insbesondere
durch Einflüsse der Nebennierenhormone Noradrenalin und Adrenalin, kommt es
zu Desorganisationen der Steuerungsprozesse. Die Konzentrationsfähigkeit und
bewusste Steuerung der Bewegung werden vermindert. Häufig treten nun wieder
frühere, fehlerhafte Bewegungsmuster als Steuergrössen in Funktion, d.h.,
der Turner verfällt wieder in Bewegungsausführungen, die er eigentlich
schon überwunden und vergessen zu haben glaubte. Dieses Phänomen wird auch
als sensomotorische Regression bezeichnet, also ein durch Angst verursachter Rückfall
in frühere Bewegungsausführungen. Dies kann allerdings auch durch starke
Ermüdung ausgelöst werden" (BAUMANN, 1979).
STIEMERLING (1969) erkannte, dass die Angst auch die Wahrnehmungsleistungen
beeinflusst.
Grosse Angst bewirkt, dass der Betroffene situative Gegebenheiten verändert,
d.h., nicht der Realität entsprechend wahrnimmt. Daraus erwachen Fehleinschätzungen
z.B. in bezug auf die Gerätehöhe beim Pferdsprung, was die Quelle vieler
Sportunfälle sein kann.
1.32 Physiologische Aspekte
Objektiv sind folgende physiologische Aeusserungen bei Angst feststellbar:
- Pulsbeschleunigung
- Erhöhte Atemfrequenz
- Erhöhter Muskeltonus, Verkrampfungen
- Zittern
- Gesichtsblässe
- Appetitlosigkeit, Uebelkeit
- Blutdruckerhöhung
- Pupillenerweiterung
- Schweissabsonderung
1.4 Formen der Angst
1.41 Angst durch Orientierungsmangel
Fehlt die Möglichkeit, sich zu orientieren, treten bei Tier und Mensch Angstzustände
auf. Zu erwähnen ist z.B. die Angst des Kindes in der Dunkelheit oder in einer
fremden Umgebung. "Angst ist in diesem Zusammenhang ein Wahrnehmungsproblem
und sicherlich eine angeborene Reaktionsbereitschaft" (BAUMANN, 1979).
Die Folge mangelhafter Orientierung löst emotionale Reaktionen aus. Bei Rückwärtsbewegungen
lässt sich Angst bei fast allen Schülern feststellen. Die selben Reaktionen
treten auf bei Sprüngen Über Geräte oder Rotationen um die Längsachse
und Breitenachse. Auch wenn die Schüler noch so gut gesichert sind, wenn jegliche
Gefahr ausgeschaltet ist und die Gewissheit herrscht, dass nichts passieren kann,
so ist doch zunächst eine unkontrollierte Angst der Schüler zu beobachten.
Diese Angst kann erst abgebaut werden durch eine schrittweise Verbesserung der Orientierungsmöglichkeit.
1.42 Angst vor dem Unbekannten
Sie taucht stets dann auf, wenn neue Situationen und Anforderungen für
den Menschen entstehen, über deren Auswirkungen er noch keine Kenntnis besitzt.
Das Neue wird aus diesem Grunde zunächst einmal abgelehnt. Erst durch vermehrte
Information wird es nach und nach akzeptiert und die negative Einstellung abgebaut.
Gerade bei Kindern ist diese Angst vor dem Neuen dem Unbekannten oft anzutreffen.
Die Angst eines Turners vor einem neuen Teil begründet sich in einem Informationsmangel.
Der Turner weiss nicht, was ihn erwartet.
Diese Angst stellt einen existentiellen Schutzmechanismus dar, der den Menschen vor
Schäden beim sportlichen Handeln schützt.
BAUMANN (1979) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der "Angst vor
dem Unbekannten im Hinblick auf äussere Umstände" und der "Angst
vor dem Unbekannten im Hinblick auf die eigene Person." Bei Ersterem wird der
Turner durch ihm unbekannte, fremde oder neue situative Voraussetzungen verunsichert.
Zu erwähnen sind hier z. B. fremde Geräte, neue Boden- und Lichtverhältnisse,
fremde Hilfsmittel usw.
So kann es vorkommen, dass ein Turner den Ueberschlag über den Kasten ausführen
kann. Er weigert sich aber denselben Sprung über ein Pferd zu springen, das
genau so lang und hoch ist wie der Kasten. Erst wenn er sich nach einigen Versuchen
mit den neuen Bedingungen vertraut gemacht hat, verliert er die Hemmung und springt.
Bei der Angst vor dem Unbekannten im Hinblick auf die eigene Person ist der
Turner sich nicht im klaren, ob er die entsprechenden Uebungen ohne Hilfe absolvieren
kann.
1.43 Realangst
Darunter verstehen wir die Angst, welche auf ein bestimmtes Objekt, eine bestimmte
Person oder eine bestimmte Situation gerichtet ist, die genau beschrieben werden
kann. Der Turner hat z. B. Angst, sich am Gerät zu verletzen (Sturz auf Holmen)
oder eine Bewegung ohne Anwesenheit seines Trainers zu turnen.
1.44 Erwartungsangst
Diese Angstform beruht auf Erfahrung. Wir verstehen darunter die Angst vor
der Angst. Der Turner hat Angst, negative auf Angst beruhende Erlebnisse nochmals
zu erfahren. Daraus entsteht die Vermeidungsreaktion, eine typisch durch Angst ausgelöste
Verhaltensweise. "Die Antizipation des Angstgefühls ist die Ursache vielschichtiger
persönlicher Reaktionen vor Wettkämpfen, Prüfungen und besonders belastenden
Uebungssituationen" (BAUMANN 1979).
2. paedagogisch-didaktische Aspekte und praktische Anwendung
Wie wir unter Kapitel 1.31 gesehen haben, wirkt sich eine grosse
Angst negativ auf die Bewältigung sportmotorischer Aufgaben aus. Die Ursache
dürfte wohl in einer Ueberaktivierung liegen. Ausserdem müssen auch schädliche
Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung in Betracht gezogen werden. Aus
der Einsicht in diese negativen Effekte, müssen wir das Ziel des angstfreien,
beziehungsweise angstreduzierten Sporttreibens fordern.
Die lern- und handlungshemmenden Wirkungen von Angst könnten dazu verleiten,
Angst nur als etwas Negatives zu beurteilen. Dabei darf man aber nicht vergessen,
dass die Angst auch einen wichtigen Schutzmechanismus darstellt. Sie hindert den
Menschen, sich ohne angemessene Vorbereitung und Bewältigungstechnik in überhöhte
Gefahr zu begeben.
2.1 Angst aus der Sicht des Turnlehrers
Das Problem der Angst hat den Sportlehrer persönlich meist nur
wenig beschäftigt. Andernfalls hätte er wohl kaum die sportpraktische Ausbildung
im Rahmen des Studiums erfolgreich absolviert. Deshalb ist er für im Unterricht
auftauchende Angstprobleme meist wenig sensibilisiert. Um der Angst wirkungsvoll
begegnen zu können, muss er ihre möglichen Entstehungsprozesse kennen.
Er muss wissen, dass Angst auf natürlichen Auslösern basieren kann, aber
auch durch klassisches Konditionieren, Generalisieren, operantes Lernen und Beobachtungslernen
erworben werden kann. So wird er z.B. aus dem Wissen um die Bedingungen des operanten
Lernens sich hüten, auf eine motorische Fehlleistung eines Schülers mit
Tadel und Strafe zu reagieren.
Angst sollte schon während ihres Entstehungsprozesses bekämpft werden.
Notwendig dazu ist ein frühes Erkennen dieser Erscheinung. Der Sportlehrer muss
also folglich über die Möglichkeit zur Beobachtung der Angst bescheid wissen.
2.11 Möglichkeiten zur Erkennung von Angst
Angst kann beobachtet werden in:
- den sprachlichen Aeusserungen
- verdeckten körperlichen Vorgängen
- sichtbaren Verhalten
In den sprachlichen Aeusserungen wird der Umwelt mitgeteilt, was als Unlust,
Bedrohtsein, Störungen des Lebensgrundgefühls erlebt wird.
Unter den körperlich verdeckten Vorgängen sind Veränderungen
der Pulsfrequenz, Zittern, Blässe usw. also physiologische Prozess, die unter
1.32 erwähnt wurden, zu verstehen.
Beim sichtbaren Verhalten lässt sich folgendes beobachten:
Motorische Aeusserungen wie:
- Blicke Über die Schultern, Unsicherheit
- Mehrmaliges Ansetzen zur Bewegung
- Zusammenbruch der Bewegungsgestalt
- Regression auf frühere Könnenstufen
emotionale Aeusserungen wie:
- Vortäuschung einer Verletzung
- Enttäuschung über den Misserfolg
- Vermeidung (z.B. sich als Helfer anbieten, um die angstauslösende Situation
zu vermeiden.)
- Aggressives Verhalten
2.2 Vermeidung und Ueberwindung von Angst
2.21 Eingeständnis und Auseinandersetzung mit der Angst
Der Sportlehrer sollte im Unterricht ein harmonisches soziales Klima schaffen,
so dass der Schüler seine Angst frei äussern kann, ohne von den übrigen
Schülern ausgelacht zu werden. Angst sollte als eine natürliche Reaktion
dargestellt werden, deren man sich nicht schämen muss. Wenn dem Schüler
die Angst klar bewusst ist, wenn der Gegenstand der Angst erkannt, können auch
Massnahmen zur Vermeidung ergriffen werden.
Bei dieser kognitiven Erfassung der Angst besteht die Möglichkeit, sie zumindest
teilweise intellektuell zu steuern. Ausserdem können Massnahmen zur situativen
Veränderung durchgeführt werden, um die angstauslösenden Reize auf
ein Minimum zu reduzieren.
2.22 Kleingruppenarbeit
Heute wird im Sportunterricht noch stark lehrerzentriert gearbeitet. Da der Sportlehrer
meist die gesamte Klasse anweist, lassen sich angstreduzierende Mechanismen kaum
einbringen.
In der Kleingruppe ist eine Angstreduktion viel besser möglich. "Da Angst
die Wahrnehmungsfähigkeit reduziert, somit die Konzentrationsfähigkeit
ebenfalls negativ beeinflusst wird, kann nur die Kleingruppe emotionale Sicherheit
und die Einfühlungsbereitschaft für die anderen schaffen" (MEYNERS,
1983).
Wichtig bei der Gruppenbildung ist, dass wir die Klasse nicht in Aengstliche und
Nicht-Aengstliche unterteilen. Eine Gruppe von Aengstlichen würde sich gegenseitig
"anstecken" und ein totales Chaos könnte entstehen.
Der Aengstliche in einer Gruppe von Nicht-Aengstlichen fühlt sich geborgen und
wird von den anderen mitgezogen, dass er sich der Angst gar nicht bewusst wird. Die
Angstfreiheit der Gruppenmitglieder überträgt sich auf den ängstlichen
Schüler!
2.23 Körperkontakt
Unmittelbarer Körperkontakt hat eine angstreduzierende Wirkung. Sobald der
Turner den Griffansatz des Helfers spürt, wird er von einem Gefühl der
Sicherheit befallen. Der Schüler spürt körperlich, dass ihm nichts
passieren kann.
Dieses Sicherheitsgefühl hat der Turnende aber nur, wenn er in den Hilfestehenden
auch restloses Vertrauen hat. Hat ein Hilfestehender einmal versagt und der Turnende
ist zu Schaden gekommen, kann er über den Generalisierungseffekt das Vertrauen
in alle Hilfestehenden verlieren. Darum ist es wichtig, dass Hilfestehende genaustens
instruiert werden. Gerade bei Schülern, die einander gegenseitig Hilfe stehen,
ist die Instruktion von grösster Bedeutung, da sie selber noch über eine
ungenügende Bewegungserfahrung und der daraus folgenden Antizipationsfähigkeit
verfügen, um situationsgerecht eingreifen zu können. Situationsgerecht
eingreifen heisst nicht, dass der Helfende dem Sporttreibenden die zentralen, bewegungsrelevanten
Momente abnimmt, sondern dass die Bewegung dort unterstützt wird, wo sie nicht
ohne fremde Hilfe ausgeführt werden kann.
2.24 Vertrautheit situativer und personaler Bedingungen
"Angsthemmung und Angstblockierung können weiterhin vermindert werden, wenn möglichst viele bekannte, vertraute Reize in der Lernsituation vorhanden sind. Dies kann sowohl die räumliche Umgebung, die Geräte, die anwesenden Personen und die zu erkennenden Bewegungshandlungen treffen" (BAUMANN, 1979).
Oft finden die Wettkämpfe im Geräteturnen an dem Turner unbekannten Orten statt. Um sich an die unbekannten Hallenverhältnisse, an die ungewöhnlichen Geräte oder andere situative Bedingungen zu gewöhnen, benötigt der Turner viel Zeit. Daraus lässt sich die Forderung stellen, dass der Turnende mindestens 2 Stunden vor Wettkampfbeginn am Einsatzort sein sollte. Besser wäre sogar eine Anreise am Vortag, gerade wenn noch beachtliche Distanzen zurückgelegt werden müssen zwischen Wohnort und Wettkampfort.
2.25 Emotionale Geborgenheit
Die persönliche Beziehung des Lehrers zum Turner ist sehr wichtig. Es sollte eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen. Der demokratische Führungsstil mit den Merkmalen wie Freundlichkeit, Ruhe, Verständnis, Diskussionsbereitschaft trägt zu einem entsprechenden sozialen Klima bei, bei dem Aengste weitgehend verhindert werden können. Auch aggressive Schüler sollten in der gleichen Weise behandelt werden, denn Ursache ihrer Aggression ist oft die Angst.
2.26 Klarheit der Aufgabe
Bewegungsaufgaben sollten dem Turner anhand verschiedener Informationen (verbale, taktile, optische) vertraut gemacht werden. Dabei ist darauf zu achten, dass alle Informationen klar sind. Der Lehrer sollte z.B. eine einfache Sprache verwenden, die vom Turner auch verstanden wird. Der Turner muss exakt erfahren was, wie und warum etwas zu tun ist. Wenn beim Turner darüber Klarheit herrscht, können Missverständnisse, die letztlich zu Angst, Unsicherheit und gar zu Verletzungen führen, vermieden werden.
2.27 Verlangsamung der Bewegung, gedanklicher Mitvollzug
Bei schwierigen turnerischen Bewegungen, die einer bewussten gedanklichen Steuerung bedürfen, kann es notwendig sein, dass der Ablauf zunächst einmal langsam erfolgen muss. Andernfalls kann es vorkommen, dass die Aufnahmekapazität des Turnenden überfordert wird und die mangelnde Durchschaubarkeit der Aufgabe Aengste auslöst. Umgehen können wir dieses Problem, indem Bewegungen langsamer vorgemacht beziehungsweise durch Bildreihen oder Zeitlupenaufnahmen vermittelt werden. Der Lernende erhält dadurch zwar ein falsches Bild des zeitlichen Ablaufs, er kann sich aber längere Zeit mit Teilaspekten der Gesamtbewegung auseinandersetzen. Ist die Gesamtbewegung strukturiert, muss die Bewegung wieder im normalen Tempo gezeigt werden, damit keine Verzerrung der Dynamik entsteht.
2.28 Wahrung der Orientierungsfähigkeit
jedes Hilfsmittel, das geeignet ist, dem Schüler die Orientierung im Raum zu erleichtern, wirkt angstreduzierend. Dazu gehört auch die Verlangsamung der Bewegung (siehe oben).
Orientierungsschwierigkeiten treten vor allem bei Rückwärtsbewegungen bei Ueberschlag- und Drehbewegungen, die mit grosser Geschwindigkeit ablaufen auf. Möglichkeiten, um diese Schwierigkeiten zu beseitigen, ergeben sich durch die Verwendung von Gerätehilfen, durch die aktive Steuerung durch Helfer, durch akustische Hilfen, durch rhythmische Hilfen und durch häufiges Wiederholen.
2.29 Angst und Schwierigkeitsgrad
Angst sollte auf ein und derselben Schwierigkeitsstufe allmählich beseitigt werden. Zum Beispiel turnt ein Schüler einen Salto rückwärts am Boden so lange mit Hilfestellung, bis er jegliche Angst verloren hat. Wichtig dabei ist, dass der Turner in einer psychisch und physisch optimalen Verfassung antritt. Die Hilfestellung wird langsam abgebaut, bis nur noch eine Sicherung notwendig ist. Der entscheidende Schritt, nämlich eine Bewegung allein zu turnen, sollte fliessend und ohne Dramatik erfolgen. Die Aufforderung: "Mach es alleine!" hat beim Turner häufig eine angstbedingte Verkrampfung zur Folge. Die behutsame Formulierung ist hiermit von wesentlicher Bedeutung.
2.3 Praktisches Beispiel
Am Beispiel des Handstandüberschlags möchte ich auf die einzelnen Punkte unter 2.2 nochmals eingehen. Beim Handstandüberschlag handelt es sich um eine Rotation um die Querachse. Auffallend beim Überschlag ist die hohe Drehbeschleunigung und ihre schnelle Ausführung. Diese beiden Faktoren sind Ursache dafür, dass der Turner anfänglich Mühe hat, die Bewegung gedanklich mitzuvollziehen. Es ist daher notwendig, die Bewegung zu verlangsamen, um sie dem Turner näher zu bringen. Dies kann z.B. über einen Ringfilm geschehen. Die Klarheit der Aufgabe kann weiter verbessert werden durch verbale Informationen (z.B. Überstreckung des Körpers usw.). In der Kleingruppe (zu dritt) kann nun der Überschlag verlangsamt, bei gegenseitiger Hilfestellung in einem vertrauten Klima erfolgen. Hervorzuheben ist dabei der gegenseitige Körperkontakt.
Die Orientierungsfähigkeit kann bewahrt werden, durch die bewusst langsame Ausführung. Nach und nach kann die Bewegung schneller ausgeführt werden, wobei auch allmählich die Hilfsmittel (Partnerhilfe, Gerätehilfe) abgebaut werden (Angst und Schwierigkeitsgrad).
Ueber den ganze Prozess sollten die neuralgischen Stellen (Landung) mit Matten gesichert werden, und es sollte eine freundliche, ruhige, verständnisvolle Atmosphäre zwischen Lehrenden und Lernenden vorherrschen, so dass sich der Turner emotional geborgen fühlt.
3. Literatur
- BAUMAN,S. Formen der Angst und deren Vermeidung im Geräteturnen
in: "Leistungssport" Jahrgang 9, 1979/4 s. 262-269
- BOISEN, M. Angst im Sport. Der Einfluss von Angst auf das Bewegungsverhalten im
Sport, 1975
- FITTKAU, B. Dimensionen des Lehrerverhalten und ihre Bedeutung für die Auslösung
von Angst und Sympathie bei Schülern in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie
und Pädagogische Psychologie 1 1969, s. 77-92
- HACKFORT, D. / SCHWENKMETZGER, P. Angst und Angstabbau im Sport, Psychologie und
Sport, Köln 1980
- KRÜGER, C. Die Entstehung von Angst und Aggression im Kindesalter, in: Nickel,
H., Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendalters. Hamburg 1968 s. 140-147
- MEYNERS, E. Die Angst im Sport , in: Magglingen 1983/8 s. 4-17
- NICKEL, U. Angst vorm Turnen, in: Sportpädagogik, Jahrgang 4, 1980/5 s. 19-21
- RÖTHIG (Red) Sportwissenschaftliches Lexikon, 5. Auflage, 1983
- Rohracher, H. Einführung in die Psychologie, Wien-München-Berlin, 1971
- SARASON, S. Angst bei Schulkindern, Stuttgart, 1971
- SPIELBERGER, C. D. Trait-state anxiety and motor behavior, in: Journal of Behaviour
3, 1971, 269-279
- ZISCHANG, K. Zur Bedeutung der Angst beim motorischen Lernen und Handeln, in: Sportwissenschaft,
Jahrgang 9, 1979/3, s. 237-260
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